Ein Poller im Neuen Hafen

Weniger Wald, mehr Arten

20.05.2021 Studie zu abnehmender Artenvielfalt in Bergregionen Tibets im Klimawandel

Üblicherweise gelten Bergwälder als die artenreichsten Lebensräume im Gebirge. Wie ein Team vom Alfred-Wegener-Institut im Hochland von Tibet herausgefunden hat, beherbergen die höher liegenden baumlosen Bergregionen aber deutlich mehr Spezies. Ihre Ergebnisse veröffentlichen sie jetzt im Fachjournal Nature Communications. Sie helfen besser abzuschätzen, wie die Artenvielfalt der Bergregionen im Zuge der Erderwärmung schwinden wird – wenn sich die Bergwälder weiter nach oben ausbreiten.

Wer schon einmal durchs Gebirge gewandert ist weiß, dass sich die Landschaft mit der Höhe ändert. Zuerst wandert man lange bergan durch den Wald, bis sich die ersten Wiesen und Almen öffnen, auf denen im Frühling viele verschiedene Pflanzenarten blühen. Noch weiter oben wird die Landschaft karger, schroffer. Hier gedeihen nur noch jene Pflanzen, die besonders an das Höhenklima angepasst sind. Biologinnen und Biologen, die die Vegetation der Bergwelt kartieren, untersuchen die Pflanzenvielfalt zumeist entlang von sogenannten Höhenprofilen. Zunächst bestimmen sie die Pflanzen in den ausgedehnten Wäldern, dann jene auf den alpinen Wiesen und dann die auf den steinigen Flächen. Ganz gleich, wo Forschende die Pflanzen bestimmt haben – ob in den Alpen, im Kaukasus oder in den Rocky Mountains – das Bild war stets ähnlich: Die artenreichste Bergregion sind die weiten Waldgebiete. Mit der Höhe nimmt die Artenvielfalt kontinuierlich ab.

 

Mehr Arten auf baumlosen Flächen

Ein Team um die Biologin Prof. Ulrike Herzschuh vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Potsdam hat jetzt festgestellt, dass diese These nicht unbedingt richtig ist. Wälder müssen keineswegs die artenreichsten Gebiete der Bergregionen sein. Betrachtet man nämlich die Entwicklung von Gebirgen im Laufe von Jahrtausenden, wird deutlich, dass die Landschaft jenseits der Baumgrenze viel mehr Arten beherbergt als die Bergwälder. Wie Ulrike Herzschuh und ihre Kolleginnen und Kollegen jetzt im Fachjournal Nature Communications schreiben, ist es ihnen gelungen, die Entwicklung der Pflanzenvielfalt im tibetischen Hochland für die vergangenen 17.000 Jahre zu rekonstruieren. Ihr Ergebnis: Wenn sich der Wald in kalten Zeiten in tiefere Regionen zurückzog und die Baumgrenze nach unten wanderte, dann nahm die Fläche der Bergwiesen und der hochalpinen Landschaft zu – und damit auch die Artenzahl. Während wärmerer Phasen breitete sich der Wald in die Höhe aus. Die Artenzahl sank. „Legt man dieselbe Flächengröße zu Grunde, dann findet man in den baumlosen höheren Flächen mehr Arten als im Wald“, sagt Ulrike Herzschuh. „Das war selbst für uns eine Überraschung, weil herkömmliche Untersuchungen, die stets nur das Höhenprofil abbilden, bislang das Gegenteil zeigen.“

 

Größere Vielfalt an Lebensräumen

Eine finale Erklärung für ihre Entdeckung kann das Forschungsteam bislang nicht liefern. „Allerdings kann man davon ausgehen, dass man heutzutage in Waldgebieten im Gebirge mehr Arten findet, weil diese ausgedehnter sind, als die kargeren Flächen in der Nähe des Gipfels“, berichtet Sisi Liu, die Erstautorin der Studie und Mitarbeiterin in der AWI-Forschungssektion Polare Terrestrische Umweltsysteme. Damit steht heute deutlich mehr Wald zur Verfügung, der nun viele verschiedene Lebensräume wie etwa Lichtungen oder Waldbäche umfassen kann. Wäre hingegen die hochalpine Fläche größer, so vermuten Herzschuh und ihre Kollegen, dann ergäben sich noch deutlich abwechslungsreichere Lebensräume als im Wald – schattig-feuchte und sonnig-trockene Flächen oder karge, nährstoffarme Bereiche und fettere Böden. Und damit viele verschiedene Standorte für eine artenreiche Flora.

 

Uralte Sedimente aus tibetischem Bergsee

Das südöstliche Tibetplateau ist eine der artenreichsten Gebirgsregionen weltweit, ein sogenannter Biodiversitäts-Hotspot. Und da die Region so hoch liegt, waren die Bergregionen am Ende der letzten Eiszeit stark vergletschert. Erst mit der langsamen Erwärmung der Erde eroberte der Wald Teile des Hochlands zurück. Um herauszufinden, wie sich die Artenvielfalt mit dem Verschwinden und der Wiederkehr des Waldes veränderte, untersuchten Ulrike Herzschuh und ihr Team das Sediment eines alten Sees in den Hengduan-Bergen im östlichen Tibet. Der See entstand nach der letzten Eiszeit, sodass sich dort seit mehr als 17.000 Jahren Sand, Staub und die Überreste von Pflanzen abgelagert haben. Die Forscherinnen und Forscher extrahierten aus dem Sediment uralte Bruchstücke von DNA-Erbgut-Strängen und konnten so feststellen, welche Pflanzen zu welchen Zeiten gelebt hatten. Das biologische Wissen kombinierten sie dann mit den Analysen eines mathematischen Eismodells, mit dem sich die Position der Gletscher nachvollziehen ließ. „Mithilfe des Eismodells von unseren Kollegen am Geoforschungszentrum Potsdam konnten wir sehr genau ermitteln, wie sich die Pflanzengemeinschaft mit der Höhenlage des Gletschers und mit der Baumgrenze verändert hat“, sagt Ulrike Herzschuh.

 

Mit Wald nahm die Artenzahl ab

Interessanterweise gab es vor rund 8.000 Jahren schon einmal eine warme Phase, in der der Wald in Tibet weiter nach oben wanderte als heute. Für diese Zeit nimmt die Artenzahl im Sediment deutlich ab. Erkenntnisse von Herzschuh, ihrer Doktorandin Sisi Liu und weiteren Kolleginnen und Kollegen sind wichtig, um abschätzen zu können, wie sich die Artenvielfalt der Bergregionen weltweit mit dem Klimawandel verändern könnte. Denn die Situation in Tibet lässt sich auf andere alpine Regionen übertragen. „Unsere Daten können möglicherweise dabei helfen, neue Management-Strategien zu entwickeln, um dem Artenschwund zu begegnen“, sagt Ulrike Herzschuh. In jedem Falle müsse man das stereotype Bild vom Bergwald als artenreichster Region überdenken.

 

Weitere Informationen unter: www.awi.de

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